Klara Burghardt

 

 

Der Bahnhof

 

 

Oben auf dem Berg, bevor man ins Dorf reinkommt, steht das kleine Bahnhofhäuschen neben den Gleisen. Es steht allein, leer und verlassen da. Seine Mauer sind schmutziggrau, die alten Fenster und die Türen sind dunkelgrün gestrichen. Bis heute ist das Dunkelgrün schon mattgrün geworden. Im Vorgarten blühen immergrüne Pflanzen, Frühlingsblumen. Der Garten ist ungepflegt, das Unkraut wächst hoch. Neben dem kleinen Tor steht der alte Brunnen, mit seiner weißen Mauer, darüber das grüne Holz und das kleine alte Ziegeldach.
Das Rad fehlt. Der Brunnen steht ungerade, sich nach links neigend.
Ein hoch gewachsener junger Nussbaum gibt vor der Eigangstür des Fahrkartenschalters Schatten.
Hinter dem Brunnen steht der alte Birnbaum, halb ausgetrocknet. Der Kirschbaum neben dem alten Toilettenhäuschen hängt mit roten Kirschen voll. Die Äste hängen bis zum Boden. Der Baum hat noch kein Schneiden erlebt.
Die zwei Schornsteine auf dem Dach schauen traurig in den Himmel. Einige Dachziegel sind runtergefallen. Die Türen, die eine braun, die andere grün gestrichen, sind dicht geschlossen. Auch die Fensterladen sind fest zugeklebt.Der Drahtzaun ist kaputt, das kleine Tor ist offen, das große fehlt. Aber da kann man nichts stehlen. An der Tür sind Fahrräder abgestellt.
Leute aus dem Nachbarsdorf stellen sie ab. So müssen sie am Spätnachmittag, nach der Arbeit nicht zu Fuß nach Hause gehen.
Salack hat seit 1920 die Eisenbahn.
Der Bahnhof steht auf der Linie zwischen Bátaszék und Dombóvár. Schüler und Bahnarbeiter machen die tägliche Reise zur Schule und auf den Arbeitsplatz. Einige arbeiten in Mutschilak, in der Ziegelfabrik und in der Stallanlage mit Schweinen. Sie müssen nur eine Station fahren. Links fahrend waren früher die Märkte in Großmanok, Szászvár und Baja und sind auch heute noch beliebte Einkaufsplätze der Salacker. Budapest ist in der anderen Richtung, durch Dombóvár günstig zu erreichen. .
Vor dem Bahnhofhaus stehen drei alten Bänke aus Beton und Holz
Das Haus hat schon viel schönere Zeiten erlebt.
Die Umgebung des Bahnhofs ist aber wunderschön! Die Aussicht ersetzt alles. Die Fahrgäste stellen sich zum Fenster, um die Gegend zu beobachten. Milde Wiesenabhänge, riesengroße Mais- und Weizenfelder laufen in die Tiefe und breiten sich im Tal aus, umgeben mit Wäldern und Waldwiesen. In der Weite zieht sich schwarzgrün der dichte Mutschilaker Wald. Zwischen dem Laub schauen rote und braune Dachziegelteile der Dorfhäuser heraus.
Das Zwitschern und das Krähen der Vögel bricht den Lärm der Autos, die über den Gleisen aus dem Dorfe und ins Dorfe fahren.
Auf der anderen Seite schauen die Fenster des Bahnwächterhauses über die Gleisen in ein Tal hinunter, das mit hohen Bäumen umarmt ist. Im Tal liegt eine Wiese, die nach hinten untertaucht, bis zur Wiese, wo früher ein großer Teich stand.
Eine Reihe von Weidenbäumen umgeben dieses Gebiet, eine ganze Wasserwelt zeigt noch die Reste der Vergangenheit. Rechts darüber kann man an den alten Gleisen laufen, die in einen Wald führen. Ein beliebter Wanderort der Jugendlichen.
Die Straße, die aus dem Dorfe führt, erhebt sich hoch an der Kellerreihe. In der Umarmung eines undurchgänglichen Waldes stehen Kellerhäuser und Löcher, die tief in den Berg hineingehen. Die Keller schauen zum Fuß des Mecsek Gebirges, wo sich der Berg mit Wäldern und Waldwiesen zum Hügel mildert.
Unter den Kellern, am Bergabhang stehen zwei kleine Lehmhütten. Ein alter Zigeuner wohnt hier alleine.Das andere Häuschen steht leer.
Von links und rechts begleitet ein dichter Wald die Gleisen. An der Kárászer Seite des Bahnhofes stehen zwei Bänke. Sie hatten mal je eine Hinterseite, die heute fehlen. Auf der einen Bank starb vor Jahren ein Mann, seit dem will sich niemand daraufsetzen. Das Dorfschild steht zweisprachig ausgeschrieben an beiden Seiten des Dorfeingangs: SZALATNAK – SALACK.
Die Straße läuft in Armen hoher Bäume zum Dorfzentrum hinunter. Links und rechts von der Straße, auf einem steilen Puckl stehen die Bauernhäuser, deren Gärten in Täler hinunterlaufen. Aus beider Hinterseite der Häuser ist die Aussicht schön.
Man schrieb Anfang Januar 1945.
Ein Zug mit Viehwaggons fuhr langsam von Dombóvár durch Szalatnak, Richtung Russland. Arbeitssamen, verzweifelten Menschen unseres Dorfes konnten sich durch die Gitterfenster einigermaßen orientieren. Diejenigen, die Bleistift und Papier bei sich hatten, schrieben ihren Namen und ein paar Abschiedswörter auf kleine Papierfetzen, banden sie zusammen. Vor dem Bahnwärterhaus in Salack warfen sie die Papiere durch die Gitter, verkündend, dass sie nach Russland geschleppt werden.Die in der Nähe, zu Hause für sie betenden Familienmitglieder hörten unerwartet lautes Geschrei und Rattern, aber niemand wusste, woher das kam.
Niemand war auf dem Bahnhof, niemand wusste, dass sie von den Familienmitgliedern nochmals hätten Abschied nehmen können! Niemand war dort, am schönen Bahnhofsort.
Die Internierten blickten noch einmal in ihr kleines Dörflein hinein, wo ihre Lieben traugrig beisammen saßen. Sie hatten Sehnsucht, auszusteigen, es ging aber nicht, sie waren Gefangenen. Es war so schwer, der Heimat vorbeizufahren und niemanden auf dem Bahnhof zu sehen!
Von der Frau des verstorbenen Josef Almayers bekam ich das Gedicht, das die Salacker in dieser Zeit schrieben.
Ich möchte es unverändert den Lesern bekannt machen.

„Als wir kamen an Donaurand,
da hörten, wir kommen in das ferne Russland.
Auf Gepäck schreiten wir langsam vorbei,
schwer und büsend war uns dieser Gang.
Stürmisch und eisig war die Nacht,
Unsre Last hat uns manchmal auf die Knie gebracht.
Auf der Donau mussten wir warten,
Bis eine Brücke war geschlagen.
In Baja bekommen wir ein Quartier,
da war kein Fenster, keine Tür.
Eine schwere Nacht
haben wir im Keller zugebracht.
Schwer und betrübt voll Schmerzen
schlich sich Heimweh in unsere Herzen.
Weit hinaus aus Ungarns Fluren
führten uns die Eisenbahnspuren.
Im Waggon war es eine Qual,
36 war unsere Zahl.
Hart und gepresst nebeneinander wir lagen,
dass wir in der Nacht nicht konnten schlafen.
Und als wir sein gefahren dahin,
die Kälte war ja wirklich schlimm.
Wir, doch wir halten es aus,
vielleicht kehren wir doch noch einmal nach Haus.

Und auf unsre langen Fahrt
sehen wir manches Heldengrab.
Die Schneeflocken fallen herab
Auf ein manches stillen Grab.
Sie decken ganz weiß die dunkle Erde zu,
darunter schliefen Kämpfer ihre letzte Ruh.
Die kalte Erde deckt sie zu,
darunter ihr mancher Liebster ruht.
Ein Holzkreuz schwang auf ihrem Grab,
niemand weiß, wer darunter schlaf.
„Liebstes Kind, Mutter, Bruder und Freunde mein,
versorgt nur alles daheim.
Halt euch nur von der Kälte hutsam ein,
Es weint ja in Russland euer armes Weiselein.
Meine Lieben, nehmet es nicht euch zu Herzen,
ich lebe ja hier in Heimwehschmerzen.
Mein Herz ist ja immer so traurig und schwer,
weil ich nur immer denke, ich sehe euch nicht mehr.
Ich tröste mich immer im Stillen,
und ich kehre wieder heim mit Gottes Willen.”

Mein Herz war ja immer so schwer,
Weil ich nicht kann mein Liebsten sehn.
Wir reisen schon vierzehn Tage dahin,
Bis ich einmal ihn kann sehn.
Sie kamen so eilig zu unserem Zug
Und rufen:”Herzliebster, lebst du noch?”
Ich eile vor Freude zum Fenster hin.
Und konnte kaum reichen ihm die Hand,
da griffen ihn die Russen an.
Es war ja nur ein Augenblick,
da trieben sie ihn in sein Arest zurück.
Er ist von mir mit freudigen Herzen geschieden,
weil er hofft, wir sehen einander wieder.
Mein Liebster tröstet mich
mit seinem letzten Blick,
Und schaut noch einmal mit schwerem Herzen zurück.
Wir hoffen doch, wir kommen doch zusammen,
aber die falschen Russen trennen uns von einand.

Unser Zug rollt immer in Russland weiter hinein,
Mein Liebster sein Zug holt uns gar nicht mehr ein.
Mein liebster Bruder war in mein Zug,
er musste von mit änder fort.
Das Kreuz drückt mich so ganz allein,
weil ich von alle zwei so getrennt muss sein.
Ich komme in eine Baracke her,
Ich hoffe, vielleicht werde ich sie sehn.
Ich kann ja fragen, wen ich will,
niemand weiß ja, wo sie sind.
„Ach, liebe Mutter,
wenn s ihr tät wissen,
dass wir drei so sind zerrissen,
liebe Mutter, euer Herz möchte vergehn,
wenn ihr arme Weise möchtet sehn”

Am 15. März hatte ich einen schweren Tag,
da ich mein Bruder zum erstenmal sah.
Ich eilte vor Freude so eilig hin,
und konnte einige Minuten kein Wort reden mit ihm.
Ich weinte so bitterlich und schaute ihn an:
„Ach Bruder, ach Bruder, wie verlassen stehst du da?”
Er konnte vor Schmerzen kaum reden ein Wort,
weil er muss wieder von mir fort.
„Ach lieber Bruder, wie schaust denn du aus,
der Hunger schaut dir ja aus den Augen heraus. „
Mein Bruder neigt sein Kopf hinab,
denn es rollen die Tränen seinen bleichen Wangen herab.
„Ach liebe Schwester mein,
wenn uns das Mütterlein möcht sehen daheim,
ihr tät ja ihr Herz vergehn, wenn sie ihre Kinder möcht sehn.!”

Ach wie weit bin ich heute von mein Vaters Grab,
es ist ja heut so ein schöner Tag,
wo ich keine Palmen kann stecken auf sein Grab.
Ich weine hier im Stillen
und denke, hier sind ja so viele.
Ich kniete mich nieder und verrichte mein Gebetlein:
„Ach Vater im Himmel mein,
wie verlassen sind heute dein’ Weiselein.
Heute fließen ja Seufzer und Tränen,
weil wir unser Vater sein Grab nicht können sehen.
Aber es wird einsmal kommen,
dort am Himmel droben
für uns ein Wiedersehn….. „

Heute leben nur wenige von ihnen, viele sind in Russland, die anderen schon zu Hause gestorben. Die noch heute Lebenden reden wenig über diese Zeit, vielleicht unter einander.
Die jungen Leute wissen nicht, was vor 63 Jahren mit den Deutschen im Dorfe passierte. Wenn ich mich aber zu ihnen setze, und nach dieser Zeit frage, dann kommen bald die Tränen.
Eine alte Frau, die unter den Zwangsarbeitern war, bekam das Gedicht :Grosnij – Kaukaus als Geschenk von mir. Sie weinte und sagte, es sei ihr schönstes Geschenk. Eins hat sie noch betont. Ging es auch so schlecht ihnen, den lieben Gott verneinten sie nicht, sie hörten nie auf in der Ferne zum Gott zu beten.
Heute verbreitet sich ein Gerücht in Salack. Die Leitung der Eisenbahn will die Strecke Dombóvár – Bátaszék abschaffen. Es steht kein Bahnwächter mehr draußen, der die Schranke herablässt, wenn der Zug kommt. Keiner steht dort, in seiner Uniform, lächeld sein Schild hebend, wenn alle aus dem Zug steigen. Niemand gibt mehr in der kleinen Bahnwärterstube die Fahrkarten aus.
Das Bahnwärterhäuschen steht einsam und verlassen da.
Was bringt die Zukunft?
Wie können die Menschen die Arbeitsplätze, die Kinder die Schulen erreichen?
Salack wird vor der Welt versperrt sein. Kein Kinderlärm in der Schule, kein Rattern und kein Pfiff des Zuges am Bahnhof.
Ist das die Entwicklung?

Anhang: Klara Burghardt: Grosnij – Kaukasus

(An meinen Onkel, Simon Burghardt, an alle Zwangsarbeiter)

Schwere Schneeflocken fallen,
gefroren, steinhart die Erde.
Wind pfeift durch die Wüsten,
trauriggrau steht die Baracke.

Dünner Rauch qualmt in den Himmel,
zitternde Sklaven sitzen im Stillen.
Weinen, Schmerz und nur Sorgen,
in der Ferne die verzweifelten Lieben.

Auf einmal im Stillen
vom Mund eines Jungen
ertönt eine Stimme.
Eine leise Harmonika
und dazu das Lied
von der weiten Heimat,
so schön, so lieb!

Tränen in den Augen,
einander umarmend
das Lied von Zuhause
summen die Tausend’.
Die Heimat ist da,
auch wenn nur
- für einen Moment.

Jahre vergingen, still ist das Lied.
Der Junge gestorben, still die Musik.

( C ) 2004

 

 

Die Fähre

 

 

Der Zug rollte seit Stunden mit seiner schweren Traglast seinem nächsten Ziel zu.
Es war Anfang Januar, 1945.
Gott schickte dieses Jahr einen harten Winter auf die Erde.
Im Waggon, in der Mitte des Zuges zog sich Gabriele klein zusammen.
Der Wagen war gebrettert, auch der Boden.
Sie lag neben ihrer Tante, Regine. Die Frauen lagen auf Brettern, die den Gefangenen als Bett dienten.
Wind pfiff durch die Wänden, es war eiskalt im Waggon.
Ihr tränenfeuchtes Gesicht drückte das Mädchen in ihr nasses Kissen.
Die Mutter war nicht zu Hause, als sie weggeschleppt wurde. Sie konnte nur ein kleines Päckchen zu sich nehmen; eine Decke, ein Leintuch und ein Kissen, ein wenig Unterwäsche.
Es war kein Essen zu Hause, nur ein kleines Brotstück Das steckte sie noch schnell in ihr
Bündel.
Ihr blutete das Herz, weil sie von der geliebten Mutter kein Abschied hat nehmen können!
Sie war zwanzig Jahre alt und hat ihr kleines Dörflein noch nie verlassen. Hier fühlte sie sich immer geborgen. Sie hatte gute Freundinnen, auch Freunde, Schulkameraden, mit denen sie zur Schule ging, gespielt, gearbeitet hat, mit denen sie an Dorffesten gern getanzt hat.
Sonntag nachmittags zog sie ihre schönste Tracht an und lief, die deutschen Volkslieder singend, Hand in Hand mit Jugendlichen durch die Straßen des Dorfes.
Die Mütter und Omas saßen auf den Bänkchen vor ihren Häusern und hörten freudevoll ihnen zu. Die Männer verbrachten im Keller oder im Wirtshaus bei einem Gläschen Wein, mit Plaudern den Nachmittag. Das Mädchen hörte immer gern den Alten bei ihrem Erzählen zu. Diese lustigen-traurigen Geschichten gab sie dann ihren Freundinnen weiter. Sie erzählte gern.
Ihre Familie war nicht reich. Doch sie hatten immer, was sie brauchten. Die Bedürfnisse waren nicht hoch. Sie waren damit zufrieden, was ihnen Gott gab. Ihr tiefer Glaube brachte Frieden, Liebe in ihr Familienleben.
Gabriele wuchs in Geborgenheit, in Sonnenschein auf.
Diese Bilder wirbelten vor ihren Augen.
Sie schlotterte, es klapperten ihre Zähne. Regine deckte sie noch fester zu. Aber es hat nichts geholfen. Der eiskalte Wind drang in ihre Kleidung ein. Sie zitterte an ganzem Leibe.
Drei Salacker Frauen waren in diesem Wagen. Die anderen aus dem Dorf kamen zusammen in einen anderen Waggon. Sie waren mindestens zusammen. Noch gut, dass die Burghardt Regine und die Hoffmann Vavi bei ihr waren! Die anderen Frauen,die das gemeinsame Leid trugen, wurden aus dem Nachbarsdorf, Kebling verschleppt.
Ihr Magen murrte laut. Wann hat sie zuletzt gegessen? Das kleine Frühstück hat sie schon vergessen. Sie hatte Hunger. Mit blaugefrorenen Fingern nahm sie ihr letztes Stückchen Brot aus ihrem Bündel.
Draußen war es schon spät. Doch der Vollmond gab in der Nacht ein wenig Licht.
Man hörte nur das Rattern der Räder und den brausenden Wind.
In der Spätnacht blieb der Zug in Baja vor einer gesprennten Brücke krachend stehen.
Draußen hörten die Frauen lautes Geschrei.
„Raus, raus!”- trieben die Russen die Gefangenen aus dem Zug.
Gabriele nahm ihre Sachen und trat eilig nach den anderen aus dem Waggon.
Sie fühlte ihre Beine kaum. Es lag überall hoher Schnee,der Wind schnitt in ihr Gesicht. Die Menschen wurden zusammengestellt, auch die anderen Salacker standen kopfhängend, zusammengefroren in der Reihe.
Gabriele zog ihren Mantel zusammen. Tränen flossen aus ihren Augen. Auch die anderen weinten bitter.
„Dawaj! Dawaj!- donnerten die Stimmen der Russen, die mit Gewehr die Deutschen wie Vieher trieben.
Ein hoher Damm zog vor der Gruppe.
Darauf wurden sie getrieben.
Gabriele hatte feste Schuhe, doch im hohen Schnee wurden die Strümpfe und Socken schnell feucht.
Vom steilen Damm mussten sie herabrutschen. Weil sie ihre Füße nicht mehr fühlten, rollten viele den Puckl hinab.
Und sie hörten das ständige:”Dawaj!Dawaj!”
Gabriele hatte schrecklichen Hunger, sie war schläfrig, voll Angst. Auch die Männer weinten schon.
Ein dichter, kahler Wald stand vor ihnen, durch ihn mussten sie sich kämpfen. Der Schnee, den Gabriele immer geliebt hat, wurde zum Feind.
Bis zum Kreuz war sie schon nass, alle zitterten, ihnen ging es auch nicht besser.
Zwanzig- dreißig Schritte gingen sie,dann schrien die Russen:”Halt!”
Sie schnauften sich ein wenig aus.
Eine von ihnen weinte laut:”Warum töten die uns nicht jetzt? Ich kann es nicht mehr aushalten! Die werden uns nicht weiterbringen,die schießen uns in die Donau!”
Die Umstehenden versuchten ihr Mut zu geben. Aber wie, wenn sie auch keine hatten?
„Dawaj! Dawaj!”
Sie schleppten sich mühsam weiter. Die Hecken und der Schnee machten den Kalvarienweg noch schwerer. Mehrere fielen in den Schnee. Doch die Russen waren gleich dort und stumpften den Gefallenen mit dem Gewehr:”Dawaj! Dawaj!”
So gingen die Gefangenen Schritt für Schritt in die Richtung Mohacs. Nach zwanzig Schritten:”Halt!”,dann wieder:”Dawaj!”
Das Licht des Vollmondes zeigte ihnen den Weg. „Der liebe Gott ist mit uns, er beleuchtet
unseren Weg.”-schaute Gabriele dankend auf den Himmel.
Auf einmal waren die Bäume weg, die Donau lag vor ihnen.
Am Wasser war es noch kälter, wenn man es noch steigern kann.
Am Ufer standen zwei große Fähren.
Die Russen trieben die erschöpften Menschen so dicht, wie Heringe darauf.
Die Salacker versuchten zusammenzubleiben.
Dann wurden die Fähren in die Mitte der Donau gezogen. Dort hielten sie an.
Es war schon Spätmitternacht.
Das eiskalte Wasser schlug große Eistafel an die Fähren. Gabriele sah jemanden von der anderen Seite ins Wasser zu fallen. „Der hat keine Sorge mehr!”-sagte eine Stimme leise.
„Ich will auch nach ihm!”- eine Frau drückte sich verzweifelt nach vorne, doch die anderen hielten sie zurück. Sie fing an, bitter zu weinen.
Alle waren nass, durchgefroren.
„Das ist unser Friedhof!”-dachte Gabriele. „Ach, wenn ich nur meine Mutter nochmal sehen könnte!”-seufzte sie tieftraurig.
„Beten wir!”-rief eine Stimme und sie fingen an leise zu beten. Sie schluckten ihre Tränen, doch sie hofften ganz stark,dass Gott sie nicht verlassen hat.
Sie konnten kein Auge zumachen. Sie hatten nicht mal Platz sich umzudrehen.
Es war eine helle Nacht. Der Vollmond beleuchtete das Wasser, mit den schwimmenden Eistafeln. Gabriele hatte große Angst.
Um halb sieben, am frühen Morgen wurden die Fähren an den anderen Ufer der Donau gezogen. Hinten zog der Wald, vor ihnen standen Häuser.
Beim Hinausgehen lag der Weg wie ein Eisspiegel unter ihren Füßen.
Jeder Schritt war lebensgefählich. Viele rutschten aus, schlugen sich stark an.
Niemand war auf der Straße.
Hinter abgelassenen Vorhängen schauten verzweifelte Gesichter verstohlen heraus.
Zwei km mussten sie auf der Eisplatte laufen.
Dann kamen sie am Bahnhof an. Da stand ein offenenes Gebäude, da wurden sie hineingetrieben.
Gabriele verstand kein Wort der Russen, sie machte automatisch alles nach ihrer Tante.
Im neuen Gebäude lagen noch Ziegelbrocken.
Sie nahm ihre nasse Decke und legte sich ausgemerkelt auf den kalten Boden.
Zwei Tage verbrachten sie hier, zusammengefroren, fast verhungert, verzweifelt.
Dann wurden sie wieder in den Zug getrieben.
„Ihr fahrt jetzt in die Bacska, zum Kukruzlesen!”
Diese Lüge hören die noch Lebenden immer in den Ohren.
Gabriele wacht noch heute, nach sechzig Jahren auf, weil sie im Traum das Rattern des
Zuges hört, der sie für vier Jahre Zwangshaft nach Grosnij- Kaukasus brach.
( C ) 2008

 

 

Klara Burghardt